Biomechanische Parameter im Skilanglauf – Die Theorie in die Praxis umsetzen
Von Matthias Graf
Das hier ist der zweite Teil der Reihe „Biomechanische Parameter im Skilanglauf – Die Theorie in die Praxis umsetzen“ und in diesem Teil werden die relevanten Kräfte- und Muskelaktivitätsparameter dargestellt.
Bei der Beinkraft ist es entscheidend, dass der Beinabdruck durch eine hohe Position vor Beginn des Abdruckes unterstützt wird, um das komplette Potential des Beinabdrucks auszunutzen. Die maximale Kraft des Stockschubes nimmt linear zur Geschwindigkeit zu und deshalb sollte dieser kurz, explosiv und mit einer verhältnismäßig langen Schwungphase durchgeführt werden. Zudem ist unter Belastung der Oberkörper stärker von Ermüdung betroffen als der Unterkörper. Die Verteilung am Vortrieb von Oberkörper und Unterkörper ist abhängig von der Geschwindigkeit und der Lauftechnik. Prinzipiell steigt aber der Anteil an der Gesamtproduktion der Geschwindigkeit durch die Beine bei maximaler Geschwindigkeit deutlich an.
Teil 2: Kräfte und Muskelaktivität
- Um das komplette Potential der Beinarbeit auszunutzen, sollte diese mit einer Körperschwerpunkterhöhung unterstützt werden
- Der Oberkörper ist stärker von Ermüdung betroffen als der Unterkörper
- Vortriebswirksame Phasen sollten kurz und explosiv durchgeführt werden
- Training der schnellen Muskulatur ist notwendig, um explosiv arbeiten zu können
Hintergrund
Im zweiten Teil dieser Artikelreihe werden nun die kinetischen Parameter (Kräfte), die Aktivität der Muskulatur und die Arbeitsverteilung von Armen und Beinen in der jeweiligen Teiltechnik dargestellt. Wie im ersten Teil dieser Reihe stammen die Erkenntnisse zu den einzelnen Themen dabei vor allem aus wissenschaftlichen Zusammenfassungen, sogenannte Reviews. Des Weiteren trifft auch in diesem Teil die Aussage zu, dass es sich bei den dargestellten Daten und Ableitungen nicht um eine 100%ige Festlegung handelt, sondern es Anhaltswerte sind, die auch so verstanden werden sollen. Zudem gilt der Grundsatz, dass diese Anhaltswerte immer an Athlet*in, Geschwindigkeit und Gelände angepasst werden müssen.
Kräfte
1. Beinkraft
Bei der Beinkraft sind verschiedene Parameter interessant. Einerseits gibt es die maximal aufgebrachte Kraft, die ein/e Sportler*in auf den Ski bringen kann. Eine weitere Komponente ist die Differenz der Kraft zwischen dem Minimum bei der höchsten Entlastung (sollte kurz vor dem initialen Stockeinsatz sein) bis zur maximal aufgebrachten Kraft durch den Abdruck. Diese Kraft wird im Folgenden „Delta Beinkraft“ genannt. Zudem gibt es noch die Rate der Kraftentwicklung (RFD = rate of force developement -> maximal aufgebrachte Kraft geteilt durch die Zeit, bis diese erreicht ist). Diese Variable beschreibt die zeitliche Entwicklung der Kraftentwicklung und ist entscheidend für eine explosive Kraftübertragung. Der Impuls, welcher häufig in Studien beschrieben ist, beschreibt die wirkende Kraft über eine Zeit – hier die Zykluszeit des Abdruckes.
Veränderungen in der Beinkraft sind oftmals ein Zusammenspiel verschiedenster Abläufe. Bei steigenden Geschwindigkeiten erhöht sich die maximal generierte Kraft während des Abdrucks nur geringfügig. Allerdings steigt die Delta Beinkraft dabei deutlich an. Das ist damit begründet, dass das Kraftminimum vor dem Abdruck stark abnimmt. Dieses Kraftminimum kommt durch eine Hochentlastung (Erhöhung des Körperschwerpunktes) vor dem initialen Stockeinsatz und dem Abdruck zustande.
Wenn diese Hochentlastung unsauber und technisch falsch durchgeführt wird, „hüpft“ der/die Athlet*in auf dem Ski und hat einen unsauberen Abdruck. Außerdem besteht die Gefahr, dass bei zu großer Amplitude der Hochentlastung das Timing des Abdrucks verschleppt wird, weil zu schnell auf die andere Seite verlagert wird. Grundsätzlich sollte man durch den Beinabdruck schon möglichst hoch stehen um entspannt zu gleiten. Erst mit dem Vorschwingen der Arme kommt die restliche Hochentlastung zustande (=kurze Auftaktbewegung vor dem Stockeinsatz).
Bei technisch sauberer Ausführung birgt die Hochentlastung jedoch zusätzliches Potential für den Beinabdruck, da aus dieser hohen Position eine enorme Differenz von minimal zu maximal wirkender Kraft entsteht. So nahm in einer finnischen Studie die Delta Beinkraft bis zur Maximalgeschwindigkeit um 106% zu [4]. Dies ist vor allem durch die Hochentlastung zu erklären, welche bei sauberer Ausführung wie eine Hilfskraft wirken kann. Dadurch, dass der Abdruck aus der hohen Position gleich lange dauern sollte wie in einer neutralen Position, steigt der RFD bis zur Maximalgeschwindigkeit um das Dreifache an. Ein Ziel könnte darin bestehen, diese Hilfskraft zu nutzen und unter Berücksichtigung des RFD, einen kurzen, aber effektiven Abdruck zu erzielen. Dabei sollte die Kraft über eine möglichst kurze Zeitspanne ausgeübt werden (=Impuls). Zudem lässt sich beobachten, dass bei mittleren Geschwindigkeiten zwar ein hohes Kraftniveau erreicht wird, das volle Potenzial der Beinkraft jedoch erst bei zunehmender Geschwindigkeit ausgeschöpft werden kann und demnach auch trainiert werden sollte.
2. Armkraft
Bei der Armkraft sind die Maximalkraft und das RFD interessant.
Die maximal aufgebrachte Kraft der Arme nimmt mit steigender Geschwindigkeit „linear“ zu. Forschende fanden eine Steigerung maximal aufgebrachten Kraft um 44% bei steigender Geschwindigkeit [4]. Allgemein ist es jedoch wichtig zu verstehen, dass viel Kraft nicht immer mit viel Vortrieb gleichzusetzen ist. So ist die vortriebswirksame Kraft der Stöcke stark abhängig vom Stockwinkel beim Stockeinsatz und der Richtung des Stockschubes. Eine Studie hat herausgefunden, dass bei Männern 52% und bei Frauen 50% der eingesetzten Armkraft als vortriebswirksam wirken [1]. Diese Werte wurden im Skating 1-1 bei 6ms respektive 5ms und 6% Steigung erhoben. Allgemein hängen solche Werte stark mit der Technikvariante und Steigung zusammen. Das RFD erreicht bei steigender Geschwindigkeit „nur“ eine Steigerung von ca. 50%, da die Armarbeit nicht in diesem Ausmaß von einer guten und technisch sauber durchgeführten Hochentlastung profitieren kann. Das Ziel sollte es trotzdem sein, dass der Schub mit einer kurzen, explosiven, aber intensiven Bodenkontaktzeit durchgeführt wird. Durch diesen explosiven Schub wird die Schwungphase verlängert, ohne die Frequenz zu erhöhen [5]. Für die Umsetzung eines explosiven Schubs in der Praxis ist insbesondere eine verstärkte Berücksichtigung des Trainings der schnellkräftigen Muskelfasern (Typ-II-Fasern) notwendig. Hierfür bieten sich Maßnahmen wie Maximalkrafttraining, IK-Training oder Schnellkrafttraining für den Oberkörper an. Beim Training auf Skiern/Skirollern ist es ratsam darauf zu achten, dass der initiale Stockeinsatz durch einen explosiven Kraftstoß ausgeführt wird.
3. Kräfte und Muskelaktivität unter Belastung
Die folgenden Daten wurden während eines 20 km Skatingrennen und durch die Unterschiede von einem Sprint vor und nach diesem Wettkampf erhoben [3].
Mit zunehmender Belastung sinken sowohl die maximal generierte Beinkraft (ca. 8%) als auch die Delta Beinkraft (ca. 13%), wohingegen der Impuls (ca. 6%) der Beinkraft erhöht wird [3]. Hier darf der Impuls aber nicht mit dem Kraftstoß verwechselt werden. Der erhöhte Impuls setzt sich vor allem aus der in Teil 1 beschriebenen verlängerten Abdruckzeit zusammen. Obwohl die Kraft über einen längeren Zeitraum wirkt, führt dies zu einem zähen und langsamen Abdruck, der somit weniger explosiv ist. Zudem kommen die in Teil 1 beschriebenen Probleme der Gewichtsverlagerung und Verschlechterung der Technik dazu.
Bei den Armen ist das Abfallen der maximal aufgebrachten Kraft bei der Stockkraft (ca. 25%) sogar noch größer als bei den Beinen. Das RFD sinkt bei Armen und Beinen im selben Maße (ca. 31%). Bei Betrachtung der Muskelaktivität der unteren Extremität (Waden, vorderer und hinterer Oberschenkel und Gesäß), wurde eine Verringerung der Muskelaktivität um 30% festgestellt. Beim Oberkörper (Trizeps brachii und Latissimus dorsi) wurde sogar eine Verringerung der Muskelaktivität um 39% gemessen [3]. Diese unterschiedliche Verringerung der Muskelaktivität bei Oberkörper und Unterkörper deckt sich mit der Veränderung bei der maximal aufgebrachten Kraft. Deshalb könnte es sinnvoll sein im Training vor allem darauf zu achten, dass das Maximalkrafttraining und die Ausdauerfähigkeit im Oberkörper erhöht wird. Eine erhöhte Muskelaktivität wurde zudem auch in der Muskulatur von Teres major, Rectus femoris, Trizeps brachii und Latissmus dorsi gemessen [5]. Daher kann es sich empfehlen die genannten Muskelgruppen im Training vermehrt zu berücksichtigen. Außerdem ist es von Vorteil, wenn die Kraftverteilung von starker zu schwacher Seite bei Sportler*innen symmetrisch ist [5]. Um dies zu erreichen, kann im Training darauf geachtet werden, dass beim Skating 2-1 und im Skating 2-1 mit aktivem Armschwung häufig die Seite gewechselt (gleichmäßige Beanspruchung beider Arme).
Verteilung Arme und Beine
Unter dem Gesichtspunkt der prozentualen Verteilung an vortriebswirksamer Kraft der Arme und Beine, muss zwischen Technikvarianten und Ermüdungsstatus unterschieden werden.
Beim Skating 2-1 entfallen etwa 65% der vortriebswirksamen Kraft auf die Arme und 35% auf die Beine [2]. Beim Skating mit 1-1 nimmt der Anteil der vortriebswirksamen Kraft der Arme tendenziell ab, da die Stöcke kürzere Bodenkontaktzeiten haben und somit weniger am Vortrieb beteiligt sind. Außerdem kann zwischen maximaler und submaximaler Geschwindigkeit unterschieden werden. Bei maximaler Geschwindigkeit entfallen etwa 46% der vortriebswirksamen Kraft auf die Arme und 54% auf die Beine, während sich das Verhältnis bei submaximaler Geschwindigkeit umdreht (56% Arme und 44% Beine) [4]. Dies zeigt, dass die Beine bei maximaler Geschwindigkeit einen größeren Anteil am Vortrieb haben.
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine technisch saubere Hochentlastung eine Möglichkeit darstellt die Beinarbeit effektiver zu gestalten und das volle Potential des Beinabdrucks auszuschöpfen. Bei submaximaler Geschwindigkeit hängen über 50% des Vortriebs von der Armarbeit ab (je nach Teiltechnik) und die Muskulatur des Oberkörpers ist stärker von Ermüdung betroffen. Deshalb könnte eine verstärkte Aufmerksamkeit auf das Oberkörpertraining sinnvoll sein (siehe ebenfalls „Leistungsreserve Oberkörper – schieben bis der Trizeps platzt?“). Für ein effektives Krafttraining empfiehlt es sich, vermehrt auf das Training der schnellen Muskulatur (Typ-II-Fasern) zu setzen, um die vortriebswirksamen Phasen explosiver durchführen zu können.
Quellen
1. Bessone, V., Paternoster, F., Stanglmeier, M., Veith, M., Schuster, R., Schwirtz, A. et al. (2017). BIOMECHANICAL CHARACTERISTICS RELATED TO POLING PROPULSIVE EFFECTIVENESS IN CROSS-COUNTRY V2 SKATING TECHNIQUE. ISBS Proceedings Archive, 35(1). Verfügbar unter: https://commons.nmu.edu/isbs/vol35/iss1/43
2. Göpfert, C. [Caroline], Pohjola, M. V., Linnamo, V. [Vesa], Ohtonen, O. [Olli], Rapp, W. [Walter] & Lindinger, S. J. [Stefan J.]. (2017). Forward acceleration of the centre of mass during ski skating calculated from force and motion capture data. Sports Engineering, 20(2), 141–153. https://doi.org/10.1007/s12283-016-0223-9
3. Ohtonen, O. [O.], Lindinger, S. J. [S. J.], Göpfert, C. [C.], Rapp, W. [W.] & Linnamo, V. [V.]. (2018). Changes in biomechanics of skiing at maximal velocity caused by simulated 20-km skiing race using V2 skating technique. Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 28(2), 479–486. https://doi.org/10.1111/sms.12913
4. Ohtonen, O. [Olli]. (2019). Biomechanics in cross-country skiing skating technique and measurement techniques of force production. JYU dissertations. Verfügbar unter: https://jyx.jyu.fi/handle/123456789/64605
5. Zoppirolli, C., Hébert-Losier, K., Holmberg, H.‑C. & Pellegrini, B. (2020). Biomechanical determinants of cross-country skiing performance: A systematic review. Journal of Sports Sciences, 38(18), 2127–2148. https://doi.org/10.1080/02640414.2020.1775375
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